1. Einleitung

Zum Tod meiner Mutter haben mir bis dahin unbekannte Eheleute von den „Zeugen Jehovas“ (1) kondoliert, vermutlich weil sie die Sterbeanzeige im Netz gefunden haben und sie „Jünger machen“ wollten. In dem Brief standen einige wirre Thesen dieser „ernsten Bibelforscher“, wie sie sich zuerst nannten, wie z. B. die von einem nicht ewigen, sondern unendlichen Leben auf der Erde ohne Anschauung Gottes. (Im „Wachtturm“ der „Zeugen“ sieht man Menschen, die ohne Ende in Eigenheimen leben, lächelnd über die Erde gehen, sich gegenseitig zuwinken und zum Verzehr von Rohkost treffen, was selbst für geduldigste Seelen recht bald höllisch werden dürfte.) Die „Zeugen“ lesen die Bibel – durchaus „ernsthaft“ – wie ein Auskunftsbuch und errechnen daraus akribisch Zukünftiges. Dass sie ein Buch der Kirche ist und in einem theologisch-historischen Umfeld entstanden ist, ohne das man sie nicht verstehen kann, akzeptieren sie nicht. Textgattungen und Aussageabsichten missachten sie. In ihren jeden philosophischen Denkens baren „Berechnungen“ gelten z. B. alttestamentliche Prophezeiungen und die Bilder aus der Offenbarung des Johannes gleich viel wie die Evangelien, und es kommen krude „Ergebnisse“ heraus, die letztlich nicht aufgehen. Sie fälschen dann sogar die Bibel („Neue-Welt-Übersetzung“), um ihrer „Erkenntnisse“ zu schützen. (2) Es geht ihnen um ein anscheinend sicherndes Wörter- und „Wissen“-Arsenal, um heil durch das Harmageddon (siehe auch hier) zu kommen.


Mit meinem Dank für die Kondolenz und meinen Antworten auf die Glaubensansichten der „Zeugen“ begann ein Briefwechsel, der auf die Frage hinausläuft, ob Jesus Gott, Gott dreifaltig und ob dies in der Bibel bezeugt ist: Ist Christus „nur“ ein von Gott gesandter, besonders gesegneter und als Sohn angenommener Mensch, also „fast nur Gott“ (Arianismus, Adoptianismus u.a.), oder ist er Gott selbst, der etwa in der „Jesus-Episode“ nur zum Schein einen Menschenleib angenommen hat (Monophysitismus, Doketismus u.a.)? Die Kirche hat diese Frage auf dem Konzil von Chalzedon mit der Zwei-Naturen-Lehre beantwortet: Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch und hat eine menschliche und eine göttliche Natur in einer einzigen Hypostase. (3) 


Die „Zeugen Jehovas“ erkennen nur den Text der (christlichen) Bibel als Argument an. Sie glauben zwar, dass Jesus von Gott gekommen und der Messias ist, sogar an seine Präexistenz, nicht aber an seine Gottheit. Die Dogmen der Kirche sehen sie als Abfall und Verrat an Gottes Wort an. Sogar angesichts des Wortes Jesu „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) glauben sie nicht an seine Gottheit, obwohl doch nur Gott die Wahrheit und das Leben sein kann. Selbst dieser schlichte philosophische „Dreisatz“ (1. Gott ist das höchste Gut [summum bonum]. 2. Über die Wahrheit und das Leben hinaus ist kein höheres Gut denkbar. 3. Wenn Jesus sich als die Wahrheit und das Leben bezeichnet und seine Worte wahr sind, ist er Gott) überzeugt sie nicht.


Angetrieben von den Irrtümern der „Zeugen“ und in christlicher Liebe zu ihnen, habe ich danach geforscht, ob man die Gottheit Jesu allein aus der Bibel belegen kann. Das Neue Testament bleibt in dieser Frage nur auf den ersten Blick uneindeutig: Die Worte „Sohn des Höchsten“ (Lk 1,32), „Gott gleich“ (Phil 2,6), „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30) und „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9) könnte man so verstehen, dass Jesus nur ein besonderer, von Gott gesandter Mensch sei, der zwar mit Gott „einig“ ist und zu ihm führt, aber nicht Gott selbst ist. Doch schon im Römerbrief (9,4f) ist die Gottheit Christi belegt: „Oτινές εσιν σραηλται, (…) κα ξ ν Χριστς τ κατ σάρκα, ν π πάντων θες ελογητς ες τος αἰῶνας.“ (4) („Sie sind Israeliten, (...) und aus ihnen der Christus, der nach dem Fleisch, der über alles Gott Seiende, gepriesen in Ewigkeit“). Vor allem aber wird Jesus im NT oft „Κριος“ (Kyrios, „Herr“) genannt, was das hebräische „אֲדֹנָי“ (Adonai, „mein Herr“) wiedergibt, das nach jüdischer Tradition dort gesagt wird, wo es im Alten Testament „יהוה“ (JHWH; vgl. 5.1.2.3) heißt. Auch dies ist ein biblisches Bekenntnis seiner Gottheit, das hier am Beispiel des Johannesevangeliums dargelegt werden soll.


Bereits auf der Textebene des Johannesevangeliums gibt es eindeutige Zeugnisse der Gottheit Jesu, mehr noch auf zahlensymbolische Weise. Zu deren Verständnis seien einige Hinweise vorangestellt.


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(1) Vgl. Dr. Michael Utsch, Melanie Hallensleben, Die Zeugen Jehovas (https://www.bistum-trier.de/glaube-und-seelsorge/glaube-im-dialog/weltanschauungen-sekten/m-article/Zeugen-Jehovas/ - Zugriff am 13. 12. 2023)

(2) Z. B. Joh 1,1 („Und das Wort war ein Gott“) und Mt 26,26 („Dies bedeutet meinen Leib“). Quelle: https://www.jw.org/de/bibliothek/bibel/studienbibel/buecher/ (Zugriff am 11. 11. 2023). 

Bezeichnende Beispiele für den Umgang der „Zeugen“ mit der Bibel sind die falsche Übersetzung und Deutung von 1Tim 4,8 „Körperliches Training hat einen gewissen Wert“ (in: Erwachet Nr. 1, 2020, S. 11) und das Zitat „Hätte Gott übrigens gewollt, dass Menschen wie Engel im Himmel leben, warum erschuf er sie dann nicht von Anfang an als Engel?“ (in: Was ist der Sinn des Lebens? Wie kann man ihn herausfinden?, Selters 1993, S. 5; vgl. dazu Mt 22,30). Das Neue Jerusalem gibt es nach den Berechnungen der „Zeugen“ zweimal („Das Neue Jerusalem wird von einem solch leuchtenden Glanz umstrahlt. In der Tat werden diese Braut und ihr Bräutigam, der König, die Hauptstadt der Universalorganisation Jehovas sein –  seiner ,Frau‘, des ,Jerusalem droben‘.“ - https://wol.jw.org/de/wol/d/r10/lp-x/1101988043, Zugriff am 7. 12. 2023, Hervorhebungen vom Verf.) obwohl es in Offb 21,2 heißt: „Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen“ und dort von einem im Himmel verbliebenen Jerusalem keine Rede ist.

(3) „(Christus ist) der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich in einer Person und einer Hypostase vereinigt.“ Quelle: https://www.theologie.uni-wuerzburg.de/fileadmin/01030300/Folien_Kap._4.pdf (Zugriff am 15. 10. 2023)

(4) https://diebibel.ibep-prod.com/bibel/UBS5/ROM.9 (Zugriff am 5. 11. 2023)

Mit „ ν“ („der Seiende“) wird auf Christus zudem der alttestamentliche Gottesname angewandt (vgl. 5.1.2.2).

Luther (1912): „Und aus welchen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen.“ (https://www.bibel-online.net/buch/luther_1912/roemer/9/#1 – Zugriff am 5. 11. 2023); Herder-Bibel (2005): „Und aus ihnen stammt Christus dem Fleisch nach, der über allem steht als Gott, hochgelobt in Ewigkeit. Amen.“ (https://bibel.github.io/Herder/nt/Röm_9.html – Zugriff am 5. 11. 2023)

Die EÜ (2016) übersetzt indes: „Und ihnen entstammt der Christus dem Fleische nach. Gott, der über allem ist, er sei gepriesen in Ewigkeit. Amen.“ (https://www.bibleserver.com/EU/Römer9%2C5 – Zugriff am 5. 11. 2023), ähnlich die „Neue-Welt-Übersetzung“: „und von ihnen stammt der Christus als Mensch ab. Gott, der über allem ist, soll für immer gepriesen sein. Amen.“ (https://www.jw.org/de/bibliothek/bibel/studienbibel/buecher/Römer/9/ – Zugriff am 5. 11. 2023) und z. B. die Zürcher Bibel. Dies ist durch „geschickte“ Zeichensetzung (im Urtext nicht vorhanden) zwar auch möglich, widerspricht aber der altkirchlichen Auffassung, die Luther (s.o.) noch selbstverständlich übernimmt.

Wenn man Röm 9,5 ohne Satzzeichen liest, ist das Bekenntnis zur Gottheit Jesu zugleich eindeutig und „schwebend“*, denn „ ν“ kann man auf Christus und den Vater beziehen, was vermutlich beabsichtigt ist. Der Text lautet in etwa wörtlich: „aus ihnen (den Israeliten) die Väter und aus ihnen der Christus der nach dem Fleisch der Seiende über alles gepriesen(e) Gott in die Ewigkeiten.“ (* Das „schwebende“ Gottesbekenntnis rührt von der göttlichen und die menschlichen Natur Christi her; vgl. Anm. 3 und Kap. 3, Abs. 2)

Thomas von Aquin schreibt zu Röm 9,5 (Sancti Thomae de Aquino Super Epistolam B. Pauli ad Romanos lectura; https://www.corpusthomisticum.org/cro05.html, Zugriff am 4. 11. 2023): 

„In quibus verbis quatuor haereses destruuntur. Primo quidem Manichaei, qui dicebat Christum habuisse corpus phantasticum et non verum, quod removet per hoc quod dicit secundum carnem. Habet enim veram carnem, secundum illud Lc. ult.: spiritus carnem et ossa non habet, sicut me videtis habere. Secundo, haeresis Valentini qui dicit Christum non de massa humani generis, sed de caelo corpus attulisse. Quod quidem excludit in hoc quod dicit Christum ex Iudaeis secundum carnem esse, secundum illud Matth. I, v. 1: liber generationis Iesu Christi filii David. Tertio, haeresis Nestorii qui posuit alium esse filium hominis alium Dei: contra quem apostolus hic dicit, quod ille est ex patribus secundum carnem qui est Deus super omnia. Quarto, excluditur haeresis Arii qui dicebat Christum esse minorem patre et quod est creatus ex nihilo. Contra quorum, primum dicit quod est super omnia; contra secundum, quod est benedictus per omnia saecula. Hoc enim de solo Deo dicendum est, quod eius bonitas duret in saecula.“

Teilweise Übersetzung aus: Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments mit dem Urtexte der Vulgata. Übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Augustin Arndt S.J., Regensburg, Rom 1914: 

„Die Worte des heil. Paulus über den Heiland widerlegen vier Irrthümer: den Irrthum der Manichäer, daß Christus keinen wahren Leib hatte: „dem Fleische nach“; den Irrthum des Valentin, als ob Christus seinen Leib vom Himmel mitgebracht: „aus denen dem Fleische nach Christus stammt“; den Irrthum des Nestorius, daß ein anderer der Sohn Gottes, ein anderer der Mensch Christus war: „der da Gott ist, stammt dem Fleische nach von den Juden“; den Irrthum des Arius der behauptete, Christus sei geringer als der Vater und aus nichts geschaffen. Gegen das erste streiten die Worte: „der da Gott über alles ist“, gegen das letztere: „hochgelobt in Ewigkeit“, denn nur Gottes Güte dauert in Ewigkeit. (Thom.).“


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1. Einleitung 2. Biblische Zahlensymbolik 2.1 Die Sieben und die Zehn als Zahlen der vollkommenen Schöpfung ...